Leitthema - 23. Februar 2007

Günter Rohrmoser
Das Christentum, die Religion und der säkulare Staat *


Es stellt sich zunehmend die Frage, was denn eigentlich unsere Theologie zu dem Verhältnis von Christentum und Religion beisteuern kann. Es gibt seit einigen Jahrzehnten sogar einige auch bedenkenswerte Entwürfe einer Theologie der Religionen, aber wenn man sich die ansieht, dann muss man ehrlich sagen, das Ergebnis ist erschütternd.

Wir finden eine weltgeschichtliche Konstellation vor, in der das Überleben des Christentums von der Fähigkeit abhängt, die nicht-christlichen Religionen in ihrem Kern und Wesen zu erfassen, sich selbst gegenüber diesen Religionen zu definieren und auf dieser Grundlage möglicherweise einen Dialog zu führen. Aber das was man feststellt ist, dass wir heute kaum einen Theologen in Deutschland finden, bei den Philosophen ist die Bilanz genauso traurig, die irgendetwas von den Religionen verstehen. Es gibt nur die Rede von formaler leerer Allgemeinheit, nämlich von der Religion. Nun gibt es aber eben die Religion nicht, sondern es gibt die Religionen. Das ist ja das eigentliche Problem. Denn jede einzelne Religion ist eine besondere und bestimmte, sie ist das, was Dilthey eine historische Individualität nennt. Wenn man sich nicht auf die individuelle Besonderheit und Gestalt einer Religion einlässt, dann bekommt man diese Religion überhaupt nicht in den Blick, geschweige denn, dass man die Chance hätte, Kontakt aufzunehmen. Und in der Allgemeinheit der Rede von der Religion schlechthin verschwindet die unendliche konkrete Besonderheit der Welt der Religionen.

Wenn man das Christentum und andere Religionen vergleicht, dann muss man feststellen, dass es fast zu allen zentralen Gedanken des Christentums entsprechende analoge und äquivalente Gedanken in den einzelnen Religionen gibt. Und das wirft ein schwieriges methodisches Problem auf, denn es hat überhaupt keinen Sinn, einzelne Glaubensinhalte, Reden, Sätze mit denen, die im Christentum auch anzutreffen oder nicht anzutreffen sind, zu vergleichen. Sondern dann muss der Zugang zu der Religion ein völlig anderer sein.

Darüber hinaus muss man feststellen, und das ist eine aufregende Sache, dass das Christentum heute universal wirksam ist. Wir haben ja immer diese Vorstellung, dass wenn in Europa die Lichter ausgehen, und das Christentum verschwindet, dann verschwindet es von dieser Erde. Das ist ein völlig falscher und uns ständig irreleitender Eindruck. Auch das Christentum befindet sich, wie die anderen großen Weltreligionen in einem universalen Aufbruch. Die asiatische Welt, um nur mal ein Beispiel zu nehmen, eignet sich das Christentum an. Außerordentlich bemerkenswert ist zum einen, dass wir heute bereits in China 70 Millionen gläubige Christen haben, knapp 20 Millionen weniger als die Kommunistische Partei in China Mitglieder hat. Und die existieren nur in Hausgemeinschaften, denn eine Kirche, öffentliche Gotteshäuser, gibt es dort kaum. Das heißt, wenn das noch 20 Jahre so weitergehen würde, wäre China ein christliches Land. Denn wir würden ja, wenn wir in unseren Ländern nur 30 Prozent Christen haben, auch nicht zögern, die als christliche Länder zu bezeichnen. Damit würden die uns ständig heimsuchenden Analysen und Konzepte über die Situation in der Welt und ihren weiteren Fortgang allein durch eine solche Entwicklung über den Haufen geworfen werden und die Prämissen, von denen wir gegenwärtig bei der Beurteilung der Weltentwicklung ausgehen, nicht mehr zutreffen.

Und noch aufregender ist, dass sich Asien das Christentum nun in einer ihrem eigenen Geist und ihren Traditionen entsprechenden Weise auslegt und aneignet. D.h. die noch vor wenigen Jahrzehnten völlig unbestrittene Dominanz der europäischen und im Kern der deutschen Theologie besteht in der Welt nicht mehr. Die deutschen Theologen waren, was den nicht katholischen Teil des Christentums in der Welt angeht, maßgebend. So wie hier gedacht und gelehrt wurde, wurde dann auch in den anderen Ländern gedacht und gelehrt. Aber das ist vorbei.

Das ist ein Sachverhalt, aus dem wir auch für unser eigenes Verständnis Konsequenzen ziehen müssen. Um mal ein Beispiel zu nennen, Kazoh Kitamori, ein japanischer Theologe, hat ein Buch geschrieben mit dem Titel "Theologie des Schmerzes Gottes". Wenn man sich dieses Buch ansieht, stellt man fest, dass das eine Christologie ist. Aber eine Christologie, die mit den Begriffen und Kategorien, mit denen wir Christologie treiben, nichts zu tun hat. Das Modellbildende, nach dem sich dieser japanische Theologe das Christentum aneignet, ist eine uralte Einrichtung der mittleren Geschichte Japans, in der in der feudalistischen Tradition Eltern das Kind weggenommen und gemordet wurde. Und der Schmerz, den die Eltern über diese Tötung des eigenen Kindes empfunden haben, wird dann zum Ausgangspunkt, an dem man auslegt, was eigentlich im Christentum mit dem Leiden Christi am Kreuz gemeint ist. Die universale Geltung deutscher oder europäischer Theologie besteht in der Welt nicht mehr.

Daraus ergibt sich die Frage, was das für die beiden Kernbegriffe Toleranz und Dialog, mit denen wir uns bisher bei der unmittelbaren Konfrontation Europas, des Westens, des Christentums mit den außerchristlichen Religionen auseinandersetzten, bedeutet. Gerade hat Bundeskanzlerin Merkel in der Antrittsrede zum deutschen EU-Vorsitz vor dem EU-Parlament festgestellt: Europa, das ist Toleranz. Besonders begeistert stimmten die Abgeordneten Schultz, SPD und Cohn-Bendit von den Grünen zu, die erst jüngst dem Italiener Buttiglione ein EU-Amt verwehrten, weil er Christ ist.

Und da muss man doch fragen: Woher kommt die Toleranz? Welcher Begriff und welches Verständnis von Toleranz leitet uns eigentlich, wenn wir meinen, damit das Problem gelöst zu haben, indem wir sagen, wir müssen tolerant sein? Dieser Toleranzbegriff ist der Toleranzbegriff der Aufklärung. Und dieser Toleranzbegriff der Aufklärung setzt eine Transposition der genuinen historischen christlichen Religion in Moral voraus. D.h. dieser Toleranzbegriff hat ein Vorverständnis von Religion, das beinhaltet, dass an der Religion nur die ethischen und die sittlichen Folgen und Früchte, die sich aus einer Religion ergeben, interessieren. Bis hin zu dem Gerede von dem Weltethos, auf das wir den Frieden gründen müssen. Aber durch eine solche Transposition von Religion letztlich in Moral bekommt dieser Toleranzbegriff nicht das in den Blick, wozu er auffordert, sich tolerant zu verhalten. Der Begriff der Toleranz bleibt inhaltlich völlig leer, obwohl er in seiner Formalität die These beinhaltet, dass alle Religionen gleich und alle Götter in den Religionen, an die jemals geglaubt wurde, Jacke wie Hose sind. Und auf dem Boden dieses Verständnisses von Toleranz meinen wir das Problem zu lösen, wenn wir ständig von Toleranz reden. Die religionsphilosophische Hauptschrift von Lessing "Die Erziehung des Menschengeschlechtes" ist geradezu das klassische Paradigma dafür. Was dabei herauskommt und von der Religion übrig bleibt, ist die Sittlichkeit.

Die so genannten historischen Offenbarungen haben als solche keine Bedeutung mehr, sie sind in dieser religionsphilosophischen Konzeption nur Vehikel, die den Entwicklungsprozess vorantreiben, das was ihnen in der Positivität einer Offenbarungsgestalt mitgeteilt wird, in Vernunft zu verwandeln und damit die Religion als solche zum Verschwinden zu bringen und in einen Menschheitsweg der reinen Moral zu transponieren. Das ist der philosophische und theologische Boden, auf dem wir heute theoretisch stehen, wenn es um die Diskussion der Fragen des Verhältnisses vom Christentum zu den Religionen geht, und die sind nicht mehr weit draußen, sondern unter uns.

Der zweite Begriff ist Dialog. Von morgens bis abends, Dialog, Dialog, Dialog. Wir führen den Dialog, wir müssen den Dialog führen. DIE ZEIT (Nr. 3, 11.1.2007, S. 47) stellte einen muslimischen Geistlichen vor, der die Absicht hat, in Berlin die größte Moschee in Deutschland zu errichten in einem Stadtbezirk, in dem es gar keine Muslime gibt. Dagegen haben sich die Bürger zu einer Bürgerinitiative zusammengetan. Sie sind da ganz zahlreich geworden und haben denen u.a. zugerufen "Wir sind das Volk, haut ab!". Stellen Sie sich das mal vor, eine deutsche Bürgerinitiative mit hunderten von Teilnehmern ruft während einer Diskussion "Wir sind das Volk, haut ab!". Da war der Imam natürlich ganz erschrocken und hat sofort gesagt: Und wo ist eure Religionsfreiheit? Eure Verfassung verpflichtete euch doch auf Religionsfreiheit.

Der Imam Tariq und der Sprecher der Bürgerinitiative (BI), Swietlik, wurden darauf hin von der ZEIT zusammengebracht und sollten einen Dialog führen. Und die führten auch einen Dialog. Daraus muss man einiges zitieren, damit man sieht, wie so ein Dialog heute verläuft, wenn er konkret geführt überhaupt stattfindet.

Der Vertreter der Bürgerinitiative, Swietlik, wird gefragt: "Sind sie manchmal neidisch, dass andere Menschen glauben können?"

Swietlik, BI: "Neidisch nicht. Ich denke schon auch, dass es da ein höheres Wesen gibt, Gott oder Allah oder Krischna ..."

Kommentar Rohrmoser: Sobald wir von dem reden, was die Andersgläubigen unter ihrem Gott meinen, verdampft das bei uns zu einem höheren Wesen und das zu sagen, heißt natürlich nichts sagen. D.h. es ist gleichgültig. Damit sind die besonderen Religionen weg, denn es gibt ja nicht den Gott in den Religionen, das ist eine Abstraktion. Das was eine Religion ausmacht ist ja, dass der Gott einen Namen hat. Und nur weil er einen Namen hat, kann man ihn anrufen und zitieren. Das verschwindet.

Swietlik, BI: "Das scheint ja ein menschliches Grundbedürfnis zu sein, dass man jemanden sucht, dem man das Herz ausschütten kann, wenn es mal nicht so läuft. Ich kenne das. Als ich längere Zeit arbeitslos war, in verzweifelten Momenten, als es mir finanziell bis zum Halse stand und ich dachte, jetzt stürzt alles über mir zusammen, da habe ich abends im Bett gelegen, an die Decke gestarrt und gesagt: Wenn Du da bist, dann gib mir doch mal `nen kleinen Schubs."

Kommentar Rohrmoser: Und die, die den Krischna und den Allah haben, haben in Wirklichkeit ein höheres Wesen. Die Wurzel ist das Bedürfnis. Was wir verstehen ist nur Bedürfnis. Alles was nicht durch die Physik verstehbar ist in der Totalität der sittlich geschichtlichen Welt, können wir uns nur noch erklären, wenn wir begreifen, welches Bedürfnis zugrunde liegt und es stimuliert hat. D.h. also, ich glaube gar nicht, dass Du da bist, sondern ich mache daraus mal einen Konjunktiv: Also jetzt liege ich hier verzweifelt im Bett, und wenn es Dich geben sollte, dann gib mir mal `nen Schubs.

Imam Tariq: "Das ist das Problem zwischen Herrn Swietlik und mir. Ich habe schon oft erlebt, dass Gott meine Gebete erhört hat."

Kommentar Rohrmoser: Das ist was anderes. Der Imam hat konkrete Gebetserfahrung, d.h. der weiß wovon er spricht und weiß, dass Gott lebendig ist. Das ist der Unterschied ums Ganze. In diesem einen kleinen Satz, den dieser muslimische Imam ausspricht, haben wir das ganze hoffnungslos unlösbare Problem im Gespräch und Verhältnis dieser beiden. Dieser Mann weiß, dass Gott lebendig ist, aber ein Mann, der Gott nicht erfahren hat, hat natürlich Probleme, religiöse Wahrheiten zu verstehen.

DIE ZEIT: "Herr Tariq, Sie beten fünfmal am Tag. Auch für Herrn Swietlik?"

Imam Tariq: "Ich bete für die Heinersdorfer, die gegen uns sind, dass Gott ihnen zeigen möge, dass unsere Gemeinde eine friedliche Religion praktiziert."

DIE ZEIT: "Herr Swietlik, ist es eine unangenehme Vorstellung für Sie, dass Herr Tariq für Sie betet?"

Swietlik, BI: "Das nicht, aber surreal ist es schon."

Imam Tariq: "Wissen Sie, was ich einfach nicht verstehe, Herr Swietlik? Es gibt in Berlin schon so viele Moscheen, wieso haben sie etwas gegen unsere? Warum hetzen Sie die Menschen gegen uns auf?"

Swietlik, BI: "Ich hetze niemanden auf ..."


Und dann wird nach der deutschen Kultur gefragt.

DIE ZEIT: "Herr Tariq, Sie sind seit 25 Jahren in Deutschland, seit 1997 sind Sie deutscher Staatsbürger. Fühlen Sie sich hier heimisch?"

Imam Tariq: "Meine Heimat ist Pakistan. Bis ich das Gefühl hatte, dass Deutschland meine zweite Heimat ist, hat es ein wenig gedauert. In den ersten Jahren hier kannte ich nicht einmal meine Nachbarn. Die Menschen haben mich nicht sehr offen empfangen. Aber es gab viele Dinge, die ich sofort geschätzt habe: Die Bahn kam auf die Minute pünktlich an. Und dann die Sauberkeit!"

Kommentar Rohrmoser: Hurra, da können wir uns doch freuen. Wenigstens die Bahn hat er als pünktlich erfahren, der glückliche Mensch. Und was dann von seiner ganzen Einschätzung Deutschlands übrig bleibt ist die Sauberkeit, die man ja nicht unterschätzen soll, aber da wäre mir ein bisschen mehr Dreck lieber, wenn er auch noch was anderes entdecken könnte, das wert ist, genannt zu werden.

DIE ZEIT: "Was mögen Sie an Ihrem Land, Herr Swietlik?"

Swietlik, BI: "Dass hier jeder nach seiner Fasson glücklich werden kann."

Kommentar Rohrmoser: Selig werden kann, gücklich werden kann, da haben wir es. Dieses Wort hat unser Innenminister auf die Einladung zur Teilnahme an der Integrationskonferenz gesetzt zur Begründung, dass er dafür ist, dass alle nach ihrer Fasson selig werden können. Und wer hat das gesagt? Natürlich unser Friedrich der Große, der alte Fritz. Und warum hat er das gesagt? Weil ihn die Religionen einen feuchten Kehricht gekümmert haben, wenn nur Leute ins Land kamen, die die Felder bestellen und Soldaten werden konnten, dann war die Frage, nach welcher Fasson sie selig werden, schnurzegal. Das ist sozusagen heute allgemeinverständlich.

Swietlik, BI: "Dass Meinungs- und Versammlungsfreiheit herrschen. Und wir haben all die kulturellen Errungenschaften: Schiller, Goethe, die Philosophen."

Imam Tariq: "Ich habe in Islamabad Germanistik studiert. In den siebziger Jahren war das, meine Lehrerin kam aus Berlin. Ich habe eine Arbeit über Goethes Faust geschrieben..."

Swietlik, BI: "...das wusste ich ja gar nicht..."

Imam Tariq: "...und über die Stellung der Frau anhand von 'Wilhelm Tell' und über Kleists 'Zerbrochenen Krug'. Ich habe so schöne Dichtungen gelesen von Heinrich Heine und natürlich Lessings 'Nathan der Weise'. Daraus kann man ja lernen: Alle Religionen besitzen die Wahrheit."

Swietlik, BI: "Ich muss zugeben, das finde ich beeindruckend. Im Italienurlaub sagt ein Engländer zu einem "Du Kraut!", und in Pakistan setzt sich wirklich jemand mit unserer Kultur auseinander."

Kommentar Rohrmoser: Wo setzt man sich mit unserer Kultur auseinander? In Pakistan. Der Imam hat Goethe und Schiller und Kleist gelesen. Das ganze Elend, die völlige Bodenlosigkeit, die hinter diesem ständigen Gerede und der Aufforderung nach Toleranz und Dialog steht, kann doch in keinem Dialog besser offenbar werden, als in den Stellen, die hier zitiert sind. Wir müssen einfach zur Kenntnis nehmen, dass die Religion und die Kultur die entscheidenden Überlebensfragen der Menschheit sind. Auch wenn Herr Swietlik noch nicht den Faust gelesen hat, greift vielleicht der eine oder andere Leser dieses Kommentars zu Goethes Faust, liest ihn und zieht damit mit einem Imam aus Pakistan gleich.


Doch zurück zum Christentum. Die These Luthers, die auch die von Paulus ist, lautet, dass der Gerechte aus seinem Glauben leben wird. D.h. also, die Gerechtigkeit kommt nicht aus den Werken, sondern aus dem Glauben. Und diese Gerechtigkeit, aus der der Glaube leben kann, ist keine Gerechtigkeit, die selbst erworben ist durch erhebliche Anstrengungen und Leistungen, sondern ist eine Gerechtigkeit, die gegeben wird. D.h. der Mensch ist nicht der Aktive sondern der Passive, ein diese Gerechtigkeit als Gabe Gottes Empfangender.

Dieser Begriff der Gerechtigkeit hat mit dem, was die Philosophen in der Regel im Anschluss an Aristoteles unter Gerechtigkeit diskutieren, oder was wir meinen, wenn wir von Verteilungsgerechtigkeit und Leistungsgerechtigkeit reden, nichts zu tun. Der griechische neutestamentliche Begriff von Gerechtigkeit heißt Dikaiosyne. Und Dikaiosyne heißt nichts anderes als Vollstreckung des Willens Gottes. Gerechtigkeit wird wirklich, indem Gott seinen Willen durchsetzt. Die Vollstreckung des Willens Gottes, das ist Gerechtigkeit.

Das heißt für den Christen, der mit diesem Durchsetzungswillen Gottes übereinstimmt, er ist gerecht. Und von diesen Gerechten ist im Alten Testament die Rede. Wenn die Stadt oder der Staat durch ihre Verkommenheit, Nihilismus und Atheismus unerträglich geworden sind, dann können sie gerettet werden, wenn man noch zehn Gerechte findet. Wir können alle nur darum beten, dass man morgen in Deutschland zehn Gerechte findet. Aber die müssten wir ja eigentlich bei 80 Millionen noch zusammenkriegen.

Es ist die passive Gerechtigkeit und mit dieser Durchsetzung der Gerechtigkeit Gottes als Glauben ist nach Luthers Verständnis nichts anderes verbunden als der Durchbruch der Freiheit. Das ist von zentraler Bedeutung, weil jedes Urteil am Christentum vorbeigeht, das nicht als dessen innerstes Wesen und innersten Kern die Freiheit begreift. Und genau das unterscheidet das Christentum unter anderem von allen anderen Weltreligionen. Das ist auch der Grund, warum es in China 70 Millionen Christen gibt, weil das Christentum die Religion der Freiheit ist und, paradox formuliert, Freiheit eine von Gott bewirkte Befreiung der Freiheit selbst ist. Die vom Menschen gewollte Freiheit, deren Subjekt das sich selbst setzende und selbst wollende Selbst ist, verfängt sich in diesem Selbst und ist nicht frei, sondern bleibt unfrei. Die also in der Selbstverfangenheit und Selbstverstellung des Menschen gebundene und gefesselte Freiheit wird durch die Vollstreckung des Willens Gottes befreit.

Luther hat das dann in der Schrift "De servo arbitrio" so auf die Formel gebracht, dass das eigentliche Subjekt, der Autor der Freiheit, nicht das die Freiheit setzende und wollende Selbst des Menschen ist, sondern Gott selbst. Der authentische Eigentümer der Freiheit ist Gott selbst. Mit dieser Gerechtigkeit geschieht dieser Akt der Befreiung der in sich selbst verfangenen und durch das Selbst verstellten Freiheit. Diese sich als Glauben realisierende Befreiung der Freiheit führt dann zu der Frage, die sich ständig anders und neu stellen wird, die man nie ein für alle mal beantworten kann, aber wenn das der Dreh- und Angelpunkt des ganzen ist, was hat dann der Christ überhaupt noch mit dem Gesetz zu tun. Dieser Akt der Befreiung geschieht ja als Befreiung vom Gesetz. Diese Freiheit wird umsonst gegeben, also ohne, ja sogar gegen das Gesetz. Das Gesetz ist abgetan und überwunden. Das Gesetz ist nicht mehr die Bedingung und die Voraussetzung, der Mensch ist davon befreit. Wie es in dem einen Teil der Formel Luthers lautet: "Er ist ein Herr aller Dinge und niemandem untertan." Das ist die königliche Freiheit der Kinder Gottes. Was würde das für eine Verwandlung bedeuten, wenn der Geist dieser königlichen Freiheit der Kinder Gottes wieder lebendig werden könnte. Wir würden mit einem Schlag die andere Welt haben, die wir so ersehnen.

Was bedeutet das nun im Verhältnis des Christentums zu den Religionen.

Zunächst muss man sagen, dies ist der Kern der lutherischen Revolution, des Verhältnisses des Menschen in und zu den Religionen. Das ist keine Neuigkeit, man findet das auch bei Paulus, aber in dieser Klarheit und dieser Konsequenz ist es Luther, der hier die innere Revolutionierung des Christentums im Verhältnis zur Religion vollzieht.

Luther hatte alle, außer der christlichen Religion, auf den zusammenfassenden und -bindenden Begriff gebracht: Alle nicht- oder außerchristlichen Religionen sind Gesetzesreligionen. Das ist etwas anderes als das, was wir allgemein sonst über Religion hören. Das reicht wahrscheinlich so in dieser Form nicht aus, denn Luther kannte den Islam, er hatte sich sehr gründlich mit dem Koran beschäftigt und natürlich die griechische und römische Religion, aber damit war es mit der Kenntnis der Religionen bei Luther auch schon vorbei. Das reicht natürlich nicht als Grundlage für ein solch apodiktisches Urteil der Gesamterfassung der Religion unter dem Gesetz, obwohl auch bei einer noch zu leistenden Differenzierung sich das Luther`sche Urteil im Prinzip als richtig erweisen würde.

Was bedeutet das nun, wenn der Vorgang der Rechtfertigung zum Verständnis dieses Tatbestandes in den Religionen herangezogen wird? Den homo religiosus, nicht nur in den anderen Religionen, sondern auch des Christentums, ja sogar unter den Bedingungen eines postchristlichen Zeitalters, in dem wir ja gegenwärtig leben, zeichnet der Glaube aus, dass das Heil nur auf dem Wege des Gesetzes durch die Erbringung einiger durch das Gesetz geforderter Leistungen zu erlangen ist. Der Zuspruch des Heils ist gebunden an die Voraussetzung der Gesetzeserfüllung. Der Mensch der Religionen geht den schweren, mühseligen, schmerzens- und leidensreichen Weg des Gesetzes.

Aber das ist auch etwas Großartiges und für uns heute Befremdliches. Als die ersten Muslime als Arbeitskräfte nach Deutschland kamen und bei Daimler Benz fünf mal am Tag ihren Gebetsteppich herausholten und zu Gott beteten, da hat natürlich die deutsche Umwelt nur fassungslos davorgestanden. Diese Selbstdisziplinierung macht den Alltag des Lebens zu einem höheren, nicht an persönlichen Interessen, Bedürfnissen und Begierden orientiertem Leben, sondern zu einem durch das Gesetz geordneten, geprägten und bestimmten Leben.

Da haben wir auch beim Judentum große Schwierigkeiten zu begreifen, und meinen, dass das jüdische Leben, bis in die Ausprägungen gesetzesmäßig bestimmt und geprägt, eine große Last sei. Da fühlten sich die Menschen geknechtet und unterdrückt. Das ist aber nicht der Fall, sondern diese totale Erfassung des gesamten Lebensvollzuges in den Gehorsam gegenüber dem Gesetz wird da, wo das noch lebendig ist, als eine große Befreiung und eine Wohltat erlebt. Wenn natürlich der Geist, aus dem das Thoragesetz herrührt, gewichen ist, dann wird daraus plötzlich die Last. Aber der, der aus diesem Geist heraus dieses Gesetz erfüllt und nach seinem Geheiß und Gebot lebt, das ist ein fröhlicher und befreiter Mensch. So wie alle Freiheit ja durch Gesetzeserfüllung kommt, wenn man mal vom Christentum absieht.

Dem gegenüber bedeutet die passive Glaubensgerechtigkeit, wie Luther sie im Anschluss an Paulus gelehrt hat, die Umkehrung dieses Verhältnisses. D.h., nicht das Gesetz und seine Erfüllung ist die Bedingung der Erlangung des Heils, sondern aus der Wirklichkeit des teilgewordenen Heils wachsen die Werke des Gesetzes. Das ist eine Revolution, das ist die eigentliche Revolution, die das Christentum in die Welt gebracht hat.

Und was bedeutet das inhaltlich? Indem die Menschen der Religion den Weg des Gesetzes gehen, setzt das voraus, dass die Welt und das Weltverhältnis auf diesem Weg der Gesetzeserfüllung mit dem Ziel, das Heil zu erlangen, zu einem Moment der Vermittlung des Mensch-Gottes-Verhältnisses in den Religionen wird. Die Welt, als dem Gesetz unterworfene, um dessen Erfüllung es geht, wird ein Moment der Vermittlung im Gott-Mensch-Verhältnis und verschwindet damit gewissermaßen. Sie gerät als sie selbst in ihrer Eigenkraft und Selbständigkeit völlig aus dem Blick. Aber mit dieser revolutionären Umkehrung des Verhältnisses von Heil und Gesetz durch die Glaubensgerechtigkeit im Christentum geschieht nicht nur die Befreiung der im Selbst gefangenen Freiheit, sondern auch die Befreiung des Menschen im Verhältnis zu seiner Welt, ja der Welt selber.

Um es mal ganz zugespitzt zu sagen, damit es deutlich wird, die Weltlichkeit der Welt ist das eigentliche Intentum des Heilsvollzuges im Christentum und nicht ihre religiöse und spirituelle Überformung und Bändigung. Das Christentum ist weltlich. Das ist ein revolutionärer Satz, auch im Verhältnis zu unserer ganzen überkommenen Auslegung des Christentums. Der Dichter, den Carl Schmitt verehrt hat, Konrad Weiss, ein schwieriger, fast Hölderlin vergleichbarer Mann, der hat diesen wunderbaren Satz geprägt: Irdisch hab ich dich gewollt.

Irdisch, nicht jenseitig flüchtig, spirituell verdampfend, sondern irdisch. Die Befreiung der Welt zur Weltlichkeit, so wie Gott die Welt mit sich versöhnt hat, weil er die Welt geliebt hat. Das was Gott auf den Weg bringt, ist seine Weltliebe. Eine ganze Theologie steckt dahinter, denn Christ werden, so wie Luther es interpretiert hat, heißt Weltgewinn. Die verlorene Welt wird zurückgewonnen, denn Gott ist ein Liebhaber des Lebens. Und darum ist dieser Gott ein Gott der Lebendigen und nicht der Toten. Gott will das Leben und nicht den Tod des Sünders, er ist ins Leben verliebt. Das sind Kräfte, die da unentdeckt vergessen schlummern, die auch heute noch in der Christenheit selbst revolutionär wirken, obwohl es die ältesten und substanziellsten Einsichten sind, die wir einmal besessen haben.

Aus diesem Vorgang der Weltbefreiung sind natürlich auch bestimmte Folgerungen gezogen worden. Der Theologe der letzten Generation, der dieses Problem lebenslänglich und am tiefsten durchdacht hat, war Friedrich Gogarten. Mein philosophischer Lehrer, Joachim Ritter, wanderte als junger Privatdozent durch die Thüringer Lande und kommt an einem heißen Sonntagmorgen in ein kleines Dorf mit einer kleinen Kirche, geht hinein und findet da drei alte Mütterchen und auf der Kanzel einen Pastor, und der hält eine gewaltige seelenaufrührende und -bewegende Predigt. Nachher ging Ritter zu dem Pastor, stellte sich vor und der sagte, er sei Gogarten. Und dann fragte Ritter ihn: Ja Herr Pastor, lohnt sich das denn, vor drei alten Mütterchen, die wahrscheinlich keinen Satz von Ihrer Rede verstanden haben, eine solche Predigt zu halten? Da sagte Gogarten, ob da drei Mütterchen sitzen oder ein Mütterchen, Junge oder Alte, das ist doch völlig gleich, ich predige doch, weil ich den Auftrag habe zu predigen, unter welchen Bedingungen und Umständen spielt dabei überhaupt keine Rolle. Das gab es alles mal.

Und dieser Gogarten hat in der Auseinandersetzung mit dem Säkularismusproblem den Gesichtspunkt Luthers zum Ausgangspunkt seiner Theologie gemacht. Denn er hat gesagt, wenn das so ist, dann ist die säkulare Welt und darin eingeschlossen der säkulare Staat keine Fremdmacht, die das Christentum bedrängt und bekämpft, sondern eine legitime und notwendige Folge des Christentums selber. Diejenigen, die heute den Staat auf das Prinzip der Religionsfreiheit allein festlegen im Spiel der Auseinandersetzung mit den Religionen, tun das ja, wie der Friedenspreisträger 2006, Lepenies, es zum Ausdruck brachte, in der Überzeugung, den säkularen Staat und eine als religionsunabhängig und religionsfrei unterstellte Welt verteidigen zu müssen.


Ein schweizer Fernsehsender interviewte anlässlich der Verleihung des Friedenspreises 2006 Wolf Lepenies, der zu dem interreligiösen Konflikt zwischen West und Ost, Islam und Europa, speziell Deutschland einige neue Einsichten vermittelte, die in vielfacher Hinsicht bemerkenswert sind.

Die erste erstaunliche These von Lepenies war, dass man von Ost und West, von Europa und Islam überhaupt nicht mehr reden kann. Das sei von vornherein völlig verfehlt, denn der Islam und Europa, vor allem in Deutschland, seien so ineinander verschränkt, dass wir eigentlich schon ein Teil des Islam geworden sind und der Islam ein Teil von uns geworden ist und wir eigentlich in der islamischen Welt so engagiert sind, dass wir auch ein Teil der islamischen Welt geworden sind. Und das sei durchaus einleuchtend, denn zu Europa hätte immer eine islamische Dimension gehört, die Verschränkung sei ja nicht neu, sondern die hätte Europa schon seit langem bestimmt. Die Leute hätten das nur vergessen. Keiner wüsste mehr, dass die antike Philosophie durch arabische Philosophen an Europa vermittelt worden sei und arabische Kultur auch schon in Europa, in Spanien, gewesen wäre und darum müssten wir uns von der Vorstellung, hier sind wir und dort sind die anderen, lossagen. Daraus ergäben sich natürlich bestimmte Konsequenzen. Eigentlich dürfe man von Christentum in diesem Zusammenhang überhaupt nicht mehr reden, denn Europa sei kein christlicher Kontinent, sondern Europa sei immer auch islamisch gewesen. Wer vom christlichen Erbe spricht, oder im Rückgriff auf Christliches die gegenwärtige Situation bestimmt, der verhält sich eigentlich kontraproduktiv, ist genau gesehen ein Reaktionär, ein Störfaktor und dient eigentlich, vielleicht unbewusst, das war er zu konzedieren noch bereit, den Selbstmordattentätern, die ja an einem solchen Gegensatz zwischen Christentum und Islam interessiert seien. Aber diesen Gegensatz gäbe es überhaupt nicht und das müssten wir nun endlich begreifen und dürften deshalb im interreligiösen Dialog nicht mehr von christlich reden. Aber er ging noch einen Schritt weiter. Im Grunde genommen dürfte man auch nicht mehr von "wir" als deutsch, als Deutschland reden. Auch das sei genauso kontraproduktiv, weil wir unsere islamischen Schwestern und Brüder mitten unter uns haben und wünschen müssten, dass die möglichst bald eine Vertretung im Deutschen Bundestag bekommen und das Traurige sei, dass in Berlin nicht genügend islamische Polizisten tätig seien, denn das würde der Integration unserer islamischen Brüder und Schwestern ganz sicher förderlich sein. Und sein dritter Schritt war, von uns, als dem eigenen und dem anderen zu reden, das müssten wir uns überhaupt abgewöhnen, denn das wäre völlig falsch.

Er wurde auch befragt, ob er denn nicht auch Bedrohliches sähe. Natürlich gäbe es Bedrohliches und das habe seinen Grund darin, dass die islamischen Massen nicht das hinter sich hätten, was wir hinter uns gebracht haben. Denn seit dem Ende des 18. Jahrhunderts erlebten wir mörderische Kriege, die sich aus Kulturmentalitäten nährten und diese Kriege seien besonders aggressiv, mörderisch und gefährlich gewesen, weil sie vom kulturell angefachten Enthusiasmus der Massen getragen wurden. Das sei das ganze Unglück Europas und Deutschlands gewesen, aber davon haben wir uns befreit, wir haben das überwunden, sind nüchtern, sachlich und rational geworden.

Bedauerlicherweise sind aber die Massen in den arabischen Ländern noch nicht so weit. Die haben noch diesen kulturell angefachten Massenenthusiasmus und müssen erst abkühlen, sozusagen erst unseren Stand rationaler Souveränität und Überlegenheit erreichen.

Da seien natürlich auch Gefahren, aber es sei kontraproduktiv immer von den Gefahren und den Bedrohungen zu reden. Worauf wir setzen müssten sei, dass die arabisch-islamische Welt differenziert sei und da gäbe es auch die Gemäßigten. Diese Gemäßigten seien schon halbwegs auf dem Wege zu uns und die müssten wir unterstützen mit dem geplanten großen Projekt "Islam und Moderne". In dem finden sich Vertreter des Islam, der Juden und Christen zusammen und die verstehen sich ausgezeichnet. Sie entdecken zwar auch noch Unterschiede, aber für einen Intellektuellen sei das eine besondere Freude, wenn er Unterschiede entdecke. Auf die Gemäßigten müssten wir setzen und alles unterlassen, was geeignet wäre, die die auf dem Wege zu uns sind, in ihrem Eifer durch Anheizung des kulturellen Massenenthusiasmus zu dämpfen.

Befragt, was wir denn nun eigentlich anzubieten hätten, sagte er, das einzige was Europa zu bieten habe, sei der säkulare Staat. Mit dem säkularen Staat wollen wir die Welt beglücken und da muss auch der Islam noch hinkommen, die Gemäßigten sind ja schon auf bestem Wege und die anderen werden hoffentlich folgen. Er sei da nicht ganz sicher, und habe da auch manchmal Zweifel, aber man müsse eben eine frohe Botschaft in die Welt ergehen lassen.

Einige Konsequenzen daraus hat Kardinal Meisner schon erfahren, als er anordnete, dass in den Schulen keine interreligiösen Gottesdienste mit gemeinsamem Gebet stattfinden sollen. Eine Gruppe von humanen Lehrern für eine humane Schule erklärte darauf, das sei unchristlich. Aber was bedeutet das, wenn alle gemeinsam mit allen Religionen in der Schule beten? Es bedeutet, dass man der Meinung ist, alle beteten zu dem gleichen Gott. Damit ist eigentlich aller Ärger aus der Welt geschafft und wir müssen uns nur noch zu der nötigen Aufgeklärtheit und Toleranz durchringen und hinnehmen, dass jeder auf unterschiedliche Weise seinen Gott anbetet, aber vereint sind wir im gemeinsamen Gebet an denselben Gott. Das ist, mit Hegel zitiert: "Die Nacht, in der alle Kühe schwarz sind."

Wenn auch nur ein Minimum der Forderungen, die hier formuliert werden, auch von der anderen Seite erfüllt würden oder der Ansatz eines Willens erkennbar wäre, sie zu erfüllen, dann könnte man das vielleicht diskutieren. Aber von einem solchen Ansatz eines Willens auf gleichen Überzeugungen mit gleichen Methoden auf gleichem Wege gemeinsam zu schreiten, ist nichts zu bemerken. Alle Vertreter des Islam, die im deutschen Fernsehen auftreten, versichern, dass sie ganz auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, daher gleichberechtigte Bürger dieses Staates seien, die aber noch nicht wirklich gleichberechtigt seien, man müsste ihnen alle Rechte, die sie im Vergleich zu den anderen nicht haben, noch gewähren und erst dann wäre das Grundgesetz erfüllt. Alles konkrete Forderungen, die völlig sinnlos wären, wenn sie nicht davon ausgingen, ihre eigene Religion, ihre eigene Identität, von der sie nicht bereit sind, einen Millimeter abzulassen, mit Nägeln und Klauen zu verteidigen.

Und wenn man diese Einstellung auf der einen Seite sieht und auf der anderen Seite diese hoch intellektuell begründete antizipierende Kapitulation – anders kann man es ja nicht nennen – dann denke ich mit Schrecken und Heinrich Heine an Deutschland in der Nacht.

Zum Schluss sagte Lepenies, das Schlüsselwort des Islam sei die Umma, die Gemeinschaft der Gläubigen. Auf die Frage was unser Schlüsselwort sei, das wir dem entgegensetzen könnten, war die Antwort: Die Freiheit. Aber mit der Freiheit ist das deshalb so schwierig, weil es so große Probleme macht, dass die Freiheit sich selbst Grenzen setzt.

Die Konsequenzen die das hätte, wenn wir dem Rat von Lepenies folgten, sind überhaupt nicht absehbar, denn das sagt nicht ein beliebiger Intellektueller, sondern ein Exponent. Das verkündet einer unserer großen Staatsintellektuellen, die die Konzeption und die Strategie predigen. Was Lepenies hier äußert, ist nicht Gegenstand des Gelehrtenstreites im Elfenbeinturm der Wissenschaft, sondern das ist das, was bereits Politiker verlautbaren. Das verkünden die Bundeskanzlerin in abgeschwächter, Innenminister Schäuble und hohe Repräsentanten der CDU in engagierter Form, dass sie zu diesen neuen Ufern aufgebrochen sind, während das christlich-konservative Parteiprogramm noch de jure bestehen bleibt. Zögerlich und zaudernd zwar, das lag an der Person von Edmund Stoiber, ist die CSU zeitversetzt im Prinzip auf dem gleichen Weg.

Was aber völlig weg ist, ist das Wissen und das Bewusstsein, dass die säkulare Welt und der säkulare Staat den christlichen Glauben zu ihrer Voraussetzung haben. Das bedeutet, dass mit dem christlichen Glauben auch die Säkularität des Staates selbst verschwindet. D.h., wer den säkularen Staat gegen das Christentum ausspielt, zerstört damit den säkularen Staat. Und das können wir ja sehen.

Unsere Verfassung unterscheidet sich von der der Weimarer Republik dadurch, dass sie durch Werte gegründet worden ist. Das mit den Werten ist eine schwierige Sache, denn diese müssen interpretiert und durchgesetzt werden. Unser sich auf Werte konstituierende Staat leitet aus dieser Legitimation das Recht ab, die Werte auch durchzusetzen und zu vollstrecken. Und die Werte spielen bei uns die Rolle einer Zivilreligion.

Zunächst bedeutet das, dass dieser Staat mit dem mit jeder Liberalität brechenden Anspruch antritt, letztlich eine Art von Gesinnungsgemeinschaft zu sein. Denn man muss ja mit der von den Werten geforderten Gesinnung eins sein und übereinstimmen. Und wer dann das Pech hat, mit der geforderten Gesinnung nicht übereinzustimmen, kann in wohl definierten Fällen sehr schnell dort landen, wo unter dem Staat der christlichen Obrigkeit und auch in den totalitären Staaten Menschen landeten, die mit der geforderten Gesinnung nicht übereinstimmten.

Hegel hat diesen Sachverhalt klassisch so beschrieben, dass in einer Republik, in der die Tugend herrschend sein soll und von jedem die rechte Gesinnung abverlangt wird, derjenige nicht dazu gehört, der nicht von der rechten Gesinnung ist und dafür genügt allein der Verdacht. Es ist unerheblich, ob man wirklich falscher Gesinnung ist, sondern entscheidend ist der Verdacht und die Unmöglichkeit, den Verdacht abzuwehren. Neben vielen anderen Phänomenen und Entwicklungen beginnt damit der Prozess, den man als schleichende Aushöhlung bis hin zur Selbstzerstörung des säkularen Staates beschreiben könnte. Es ist ein Irrtum zu glauben, man könnte den säkularen Staat unangesehen seiner durch seine Herkunftsreligion bedingten Voraussetzungen in seiner Säkularität halten.

Daraus hat Gogarten gefolgert, dass es die Aufgabe des Christen ist, gerade den so zu sich selbst befreiten Staat in seiner Säkularität zu halten. Das wird geradezu der Weltauftrag, der politische Grundauftrag des Christen, nachdem dieser Prozess der Säkularisation sich vollzogen hat, die Welt, die Gesellschaft und den Staat säkular zu halten. Gogarten meinte, wenn das der Glaube nicht täte, bestehe die Gefahr, dass der säkulare Staat sich in sich selbst abschließt und ins Totalitäre umkippt. Das ist eine der großen tragenden Einsichten Gogartens.

Nun war Gogarten auch der Meinung, dass für die Weltgestaltung der Christen und ihr Weltverhältnis der Glaube selber keine Rolle mehr spielt, und dass im Grunde genommen das Gesetz für den Christen abgetan und erledigt ist. Wenn das die Freiheit ist, wozu braucht man dann noch das Gesetz? Die Grundgefahr, die damit gegeben ist und von der die evangelische, protestantische und reformatorische Gestalt des Christentums in der Geschichte immer wieder und geradezu existenziell bedroht wird, ist die Gefahr des Abtuns jeden Gesetzes. Und dieses Abtun jeden Gesetzes hat Luther als Schwärmerei bestimmt. In der Geschichte des Christentums bestand immer auch die Gefahr, dass das Christentum in Antinomismus abgleitet, wenn das Gesetz als Gegenüber des Evangeliums beseitigt wird. Luther war ja der Meinung, dass das Gesetz die Bedingung und Voraussetzung ist, um das Evangelium als Evangelium überhaupt erfahren zu können. Wenn das Gesetz als Gegenüber zum Evangelium abgeschafft wird, wird das Evangelium selbst zum Gesetz. Aus dem Indikativ göttlicher Zusage wird der Imperativ dessen, was der Christ tun und erfüllen soll. Von morgens bis abends Aufgaben und Soll-Gebote. Was soll der arme Christ alles tun? Wenn man das einmal vereinfacht zusammenfasst, läuft es darauf hinaus, er soll das ganze Elend und die Ungerechtigkeit der Welt beseitigen. Er soll, konkret ins politisch ideologische übersetzt, den Kapitalismus überwinden und den menschheitsverbrüdernden Sozialismus einführen. Daher die fast unwiderstehliche Neigung gerade von evangelischen Pastoren für den Sozialismus zu votieren und sich, wo es ging, an die Spitze zu stellen. Es gab doch kaum eine Demonstration gegen Kernkraft oder für soziale Gerechtigkeit, an der nicht einer oder ein paar in der ersten Reihe gestanden haben. Das kommt aus dieser Beseitigung des Gesetzes und der sich fast zwangsläufig daraus ergebenden Transformation des Evangeliums zu einem zu erfüllenden Gesetz. Konkret, der Glaube man könnte die Dinge dieser Welt vom Gerichts- bis zum Militär-, vom Verwaltungswesen bis zu den Werkstätten des Schaffens, nach dem Agape-Gebot Christi behandeln und bewältigen, war für Luther reine Schwärmerei, die er für die größte Heimsuchung des Christen hielt. Die katastrophalen Folgen müsste man mal aufdecken, die diese Art von Schwärmerei bis zum heutigen Tag in immer wieder anderer und neuer Gestalt unter uns anrichtet. Man muss sich nur mal die Neuübersetzung der Bibel ansehen, die pazifistisch-feministisch die Bibel ebenso verfälscht, wie sie im Dritten Reich mit der damaligen Ideologie verfälscht wurde.

Die andere Gefahr ist, dass das Gesetz eine solche Gravität gewinnt, dass das Evangelium dagegen verschwindet, also der Nomismus. Und einer der zentralen Gründe, die zu der Auswanderung aus den christlichen Kirchen, bei den katholischen mehr als bei den evangelischen, geführt hat, ist die Anwendung des Evangeliums als Gesetz. Das sind die großen Irrtümer und daraus ergibt sich, dass der Glaube des Christentums nur als denkende Religion existenz- und überlebensfähig ist.

Was das Christentum von allen anderen Religion unterscheidet ist, dass es eine denkende Religion ist. Der Buddhismus ist kein Argument, obwohl der Buddhismus auch auf Denkvollzüge gestellt ist, aber nicht um willen von Erkenntnis, sondern von Erlösung und Erleuchtung. Dagegen geht es bei dem denkenden Wahrnehmen des christlichen Glaubens wirklich um Denken und nur denkend zu erringende Einsichten in Zusammenhänge und Sachverhalte.

Die einen sagen, Luther hätte das gelehrt, was Paulus gelehrt hat und die anderen sagen, die Unterschiede seien so groß, dass Luther mit Paulus gar nichts zu tun hat. Eins steht jedoch fest, dass die Lehrgestalt oder die Aussagegestalt des hier angesprochenen Sachverhaltes bei Paulus eine andere ist als bei Luther. Das bedeutet auch, dass es die ein für alle mal gültige Lehrgestalt des Christentums überhaupt nicht geben kann. Weil das Christentum eine historische Religion ist und nur als historische Religion überleben kann, ist die theologische Wahrnehmung und Aussage, die denkerische Gestalt des Christentums immer eine andere, nach jeweils sich fundamental ändernden Zuständen dieser Welt. Theologie ist kein Selbstzweck, sondern sie muss die christliche Wahrheit so auslegen, dass eine Zeit in den Denkformen, in denen sie denkt und eingewöhnt ist, die christliche Wahrheit erfahren kann als "me res agitur", es ist die Wahrheit auch für mich. Das ist die Aufgabe, vor der die Theologie immer wieder steht und die sie auch immer zu neuen Denkformen und Denkgestalten und Aussageformen führt. Die Vorstellung, es gebe die ewig gleiche mit sich selbst identische Lehre, die durch alle Zeiten hindurch unbewegt von dem, was um sie herum geschehen mag oder auch mit ihr geschehen mag, immer dieselbe ist, hat mit dem Christentum nichts zu tun.

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