22. Januar 2006

Günter Rohrmoser
Was Demokratie zerstört *


Angesichts der fortschreitenden Entwicklung hat es nichts mit Panikmache zu tun, wenn man sich, wie es viele schon tun, die Frage stellt, ob die Deutschen, als ein geschichtlich bedeutsames Volk, überhaupt noch eine Zukunft haben. Im Grunde genommen wäre dieses Thema sogar heute noch aktueller als es zu Zeiten der rot-grünen Koalition war.

Als ich eben den ehemaligen Staatssekretär Lindner von der CSU hörte und er sagte, "wir brauchen Wachstum, wir brauchen Wachstum, und wenn wir kein Wachstum haben, dann bricht alles zusammen!", so ist damit eigentlich nur die logische Konsequenz einer der Krisen der Demokratie gewidmeten Überlegung zusammengefasst. Denn wenn ein Staat zusammenbricht weil die Wirtschaft kein Wachstum erreicht, dann ist er kein Staat mehr. Man könnte es aber auch noch etwas verschärfen und sagen, ein Staat und ein politisches System, das seine Überlebensfähigkeit allein auf wirtschaftliches Wachstum gestellt hat, hat auf Sandboden gebaut und auch in wirtschaftlich prosperierenden Zeiten wäre die Diagnose, die man einem solchen Gemeinwesen zu stellen hätte, an pessimistischer Einschätzung genau die gleiche.

Nun stellt sich zunächst die Frage, was ist eine Demokratie und was verdient überhaupt eine Krise der Demokratie genannt zu werden? Vielleicht darf ich vorausschicken, dass Krise ja nicht Ende, nicht Zusammenbruch der Demokratie bedeutet, sondern dass die Demokratie sich an einem neuralgischen Punkt befindet, der sowohl zum Exitus wie auch zur Erneuerung führen kann, aber nicht führen muss. Darum lohnt es sich, an die Geschichte die Frage zu richten, welche Art von Krisen und welche Erfahrungen Demokratien mit Krisen gemacht haben. Erst dann können wir die Frage stellen, ob wir aus diesen geschichtlichen Beispielen Einsichten in die Tiefe oder den Charakter der Krise unserer gegenwärtigen Demokratie erhalten können. Das Paradoxe ist, dass eigentlich der Anfang der Demokratie bei den Griechen uns gleichzeitig nicht nur eine Krise der Demokratie beschert hat, an der sie dann auch zu Grunde gegangen ist, sondern dass diese Krise der Demokratie zusammenfiel mit dem Beginn der großen, für 2000 Jahre maßgeblichen Philosophie für Europa, nämlich mit der Philosophie Platons. Die Frage ist, wie hat Platon, also nicht ein Journalist, oder ein beliebiger Rhetor, oder ein ehemaliger Staatssekretär, sondern der große Platon die Krise gesehen? Woran ist sie ihm eigentlich aufgegangen?

Wir können heute sagen, dass ohne die Gestalt und das Schicksal des Sokrates, Platon gar nicht bewusst geworden wäre, in was für einer tiefen Krise sich die Demokratie befindet. Und woran war das für ihn so evident? Es war für ihn so evident, dass der seiner Meinung nach beste Bürger Athens, der Polis, in Verkennung seiner Schuld von der Stadt als eines todeswürdigen Verbrechens für schuldig erklärt und dann von der Stadt hingerichtet wurde. Sie haben also nach Platon den Besten ihrer Bürger zum Tode verurteilt. Und wenn man von dem Besten redet, dann liegt natürlich diesem Urteil nach dem Besten oder dem Guten oder Schlechten der Maßstab oder die Frage zugrunde, was gut oder schlecht für die Polis ist. Und diese Frage, was für die Polis, also was für unsere Demokratie gut oder schlecht ist, kann man natürlich nur entscheiden, wenn man einen Maßstab hat, an dem gemessen, etwas verdient, als gut und das andere als schlecht genannt zu werden.

Ich kann wegen der Kürze der Zeit leider nicht darstellen, wie die Philosophie Platons im ganzen ein Austrag der mit dieser Krise seiner Polis gegebenen Problematik war. Aber in seinem großen Buch "Politeia", das dem Thema der Gerechtigkeit gewidmeten und größten Werk, kommt er dann - ich glaube im 7. Buch - auch auf die Staatsordnungen, also auf die verschiedenen "Regimes" zu sprechen. Und er entwickelt dort dann das berühmte, für die ganze Antike maßgebende "Kreislaufprinzip". Danach entwickelt sich jedes Staatswesen von einer Monarchie über den Weg einer Aristokratie in eine Demokratie. Und dann von der Demokratie in die Anarchie, und als Gegenschlag und als Antwort auf die Anarchie entwickelt sich eine Tyrannis. Für Platon ist also die Demokratie im Ablauf dieser "Regimes" angesiedelt zwischen Aristokratie und Anarchie. In einer Aristokratie, und das ist das Votum, das auch Platon ausgesprochen hat, ist man der Überzeugung, dass der Staat wohl am besten eingerichtet sei, wenn auch die Besten in ihm regieren würden. Die "Aristoi", die Besten sollen es tun!

Nun wissen wir sofort, dass das eine Utopie ist, denn wer entscheidet, wer zu diesen Besten gehört? Denn es müsste dann der, der die Besten auswählt, ja noch besser sein als die Besten. Und er müsste auch noch gleichzeitig im Besitz der Macht sein, um dann auswählend bestimmen zu können, wer der Beste ist. Aber dieser Gedanke der Aristokratie, dass die Besten regieren müssten, ist unangesehen der Momente, die man dagegen vorbringen kann, so tief im politischen Bewusstsein der Menschen verankert, dass ich sicher bin, dass bei jedem Stammtischgespräch über die Frage, wer regieren sollte, die Mehrheit zu dem Schluss käme, es müssten eigentlich immer nur die Besten sein. Und es führt auch tatsächlich immer zu erheblichen Konsequenzen, wenn die Bürger den Eindruck haben, wenn auch vielleicht aufgrund einer nicht geklärten oder gar nicht klärbaren Basis ihrer Urteile, dass die jeweilig Regierenden auf jeden Fall schlecht und nicht die Besten sind, die Bürger also der Meinung sind, dass die, die regieren, eigentlich gar nicht regieren sollten, weil sie das Gefühl haben, dass sie es nicht können.

Erlauben Sie mir deshalb folgende polemische Zwischenbemerkung: Wenn Herr Lindner verkündet, dass die CDU niemand besseren hätte als Frau Merkel, dann sagt das eben auch sehr viel über diese Partei aus und dann sagt das auch sehr viel aus über das, was wir von dieser, die für die CDU nach Aussagen von Herrn Lindner die Beste ist, zu erwarten haben, wenn sie uns regieren wird. Doch wir werden darauf noch zu sprechen kommen.

Und nun wendet sich Platon der Demokratie zu. Unter welchem Gesichtspunkt und Ansatz nimmt er die Demokratie in den prüfenden kritischen Blick? Der Ansatz ist die Frage, was ist für die Demokratie das höchste Gut? Um wessen Willen lebt die Demokratie? Um wessen Zieles und Zweckes willen existiert sie überhaupt? Und Platon findet, dass das höchste Gut, der letzte Zweck für die Demokratie die Freiheit ist. Wenn das aber der Fall ist, wird in der Frage, wie die Demokratie sich auf Freiheit versteht und was sie unter Freiheit versteht, letzten Endes über ihr Schicksal entschieden.

Allein dieser Ansatz würde - platonisch gesehen - völlig ausreichen. Platon stellt fest, dass die Demokraten, der demokratische Mann, wie sich Platon ausdrückte, unter dem Begriff Freiheit Beliebigkeit verstehen. Frei sein heißt also für den Demokraten: tun und lassen was man will. Jeder begehrt diese Freiheit, dass er tun und lassen kann was er will, und wenn sich der Geist dieser Freiheit ausbreitet, dann kann es dazu kommen, wie Aristophanes es uns darstellt, dass der Sohn den eigenen Vater verprügelt und der Vater dann tränenden Auges zu Sokrates läuft und ihn fragt, was er mit diesem ungebärdigen Sohn, der ihm die Faust ins Gesicht geschlagen hat, nun anfangen soll. Und Aristophanes, der ein falsches, sophistisches Verständnis von Sokrates hat, sagt dem Vater, dass er eben zurückgeblieben ist, dass er nicht imstande sei, diesen modernen, neuen, jugendfrischen Geist, den unsere Jugend den Vätern ins Gesicht schlägt, richtig zu würdigen. Er müsse eben sein Bewußtsein auf den Stand der Modernität bringen! Und wie das in den Schulen geht, das ist so unnachahmlich schön beschrieben, das kann ich ihnen gar nicht ersparen. Da ist zu lesen: "Und die Lehrer beginnen sich zu richten nach den Schülern und nehmen die Verhaltensweisen der Schüler an und reden munter und keck und versuchen ihnen Vergnügen zu bereiten und gleichen sich ihnen an ...!" Was wir in unserer Kulturrevolution erlebt haben, ist also eine uralte Geschichte, die wir alle schon hätten wissen können.

Und dann sagt Platon über diese Demokratie, die also immer mehr den Grundsatz der Freiheit als Beliebigkeit versteht, dass sie eines Tages auch mit der Demokratie nicht vereinbar ist, weil jede politische Ordnung, wie ich sie auch denken mag, eine bestimmte Verfassung - nicht nur eine äußere geschriebene Verfassung, sondern auch eine innere Verfassung der menschlichen Seele - zur Voraussetzung hat. Und Freiheit als Beliebigkeit ist mit der Verfasstheit, sei es des Einzelnen, sei es der Stadt, insgesamt nicht vereinbar und darum löse sich die Demokratie auf und gehe in einen anarchischen Zustand über. Und diese Anarchie schaffe dann die Evidenz für die Logik, dass nur einer, ein Tyrann, in der Lage ist, wieder ein Minimum von Verfasstheit und Ordnung, wenn notwendig mit Gewalt, durchzusetzen, damit man danach überhaupt wieder zusammenleben und existieren kann.

Auch hier werden Sie zugeben, dass diese Einsicht Platons alles andere als veraltet ist. Wir haben ja schon einmal die Erfahrung gemacht, das hat aber überhaupt nichts genutzt, ich fürchte, dass wir dabei sind, diese Erfahrung zum zweiten Mal zu machen.

Und übrigens sagt Platon, für den Philosophen sei die Demokratie das Beste, da die Schaffung der "besten" Einrichtung überhaupt nicht möglich sei, die Demokratie sei jedoch "relativ" die beste. Denn da die Demokratie jeden leben lässt wie er will, lässt sie auch den Philosophen in Ruhe und er kann dann auch leben wie er will, selbst wenn seine Lebensform mit der der "Polloi", der Meisten, nicht übereinstimmt.

Hier muss man bereits heute Zweifel anmelden, ob unsere Demokratie noch die Freiheit hat, dem Philosophen zu gestatten, ich will nicht sagen zu leben wie er will, aber zu lehren was er will. Ein großer deutscher Dichter, dem wir dieses Jahr gewidmet haben, nämlich Schiller, schreibt in den "Ästhetischen Briefen", indem er aus der gescheiterten Revolution die Entwicklung des Menschen als "Wilder oder Barbar" hervorgehen sieht. Er sieht diesen Tag heraufdämmern, und Schiller schreibt, dass eines Tages die Menschheit im Neger geehrt und der Philosoph in Europa verfolgt wird. Immerhin war Herr Buttiglione auch Philosoph. Geeignet zum EU-Kommissar war er nicht mehr. Also auch diese Vision hat schon einen gewissen Realitätsgehalt gehabt.

Der zweite Fall ist die Französische Revolution selber. Und dieses Menetekel schwebt über der Geschichte der Demokratie bis zum heutigen Tag. Nämlich die Tugendherrschaft des Robespierre. Die nach der Emanzipation durch die Revolution aus der Geschichte heraus entstandene Frage ist: Was hält - damals war noch von einer Republik die Rede - einen solchen, der Revolution sich verdankenden modernen Staat, also eine Demokratie, auch innerlich zusammen?

Das tun eben nicht nur die geltenden Gesetze, nicht nur das Gewaltmonopol des Staates, sondern es muss ja auch noch etwas von der Art einer Überzeugung sein. Es muss eine Gesinnung sein. Wahrhaft gedeihen kann eine Demokratie nur, so schien es damals, wenn auch die Bürger über und jenseits der materiellen Interessen hinaus, auch in einer gemeinsam geteilten Gesinnung verbunden sind. Und diese Gesinnung war damals die Tugendgesinnung. Es musste und es sollte jeder ein tugendhafter Republikaner sein. Und die Terrorherrschaft des Robespierre endete damit, dass jeder, der nicht im Besitz der geforderten Gesinnung war, als ein Demokratiefeind und als Schädling aus der politischen Gemeinschaft entfernt werden musste.

Da gibt es bei Hegel in der "Phänomenologie des Geistes" diesen großartigen Satz: "Indem die Gesinnung herrschen soll, herrscht aber in Wahrheit der Verdacht". Und zwar der Verdacht, der jederzeit von jedem gegen jeden gerichtet werden kann, nämlich nicht in der richtigen, der geforderten Gesinnung zu sein. "Und von diesem Verdacht kann sich keiner reinigen und dann kommen wir dazu zu erkennen, dass das Leben des Einzelnen soviel wert ist wie das Austrinken eines Glases Wasser oder das Abschlagen eines Kohlkopfes".

Das ist das erste Fanal dessen, was man den vom Bundeskanzler Schröder geforderten Aufstand der Anständigen nennt. Nein, das ist nicht 200 Jahre her, denn nun sind die Anständigen nicht so aufgestanden wie der Bundeskanzler sich das gedacht hat. Wer aber nicht mit aufstand, geriet damit in den Verdacht, kein Anständiger zu sein. D.h. dieser Kanzler hat das Volk in Anständige und Unanständige gespalten, weil sie nicht die Gesinnung hatten, von der er meint, dass sie die Gesinnung der Anständigen ist!

Ich rege mich darüber auf, weil die CDU sich nicht darüber aufgeregt hat. Sie ist nicht mal in der Lage gewesen gegen diese Ungeheuerlichkeit auch nur eine angemessene Meinung zu äußern. Nichts, gar nichts geschah! Und dieses Damoklesschwert der Scheidung zwischen den Anständigen und den Unanständigen kann sich jederzeit wiederholen.

Und das dritte Beispiel ist natürlich die Weimarer Republik. Wir müssen aber vorsichtig sein und nicht glauben, dass es nur einen Weg, eine Art und Weise gibt, in der eine Demokratie zugrunde gegangen ist, nämlich die, wie die Weimarer Republik gescheitert ist. Es gibt auch ganz neue Weisen, auch ganz andere, die wir an diesem geschichtlichen Beispiel gar nicht ablesen und erkennen können.

Und wenn man einmal von der demokratischen Staatskonstruktion her, in der Kürze der Zeit den prinzipiellen Grund nennen soll, der den Weimarer Staat - eigentlich wehrlos - hat untergehen lassen, dann ist es die in der Weimarer Verfassung verankerte Erklärung der totalen Wertneutralität des Staates. Es gab ja auch den Paragraphen 48, die kommissarische Diktatur des Reichspräsidenten, der in einer Notlage das Recht hatte, die Verfassung außer Kraft zu setzen und alle Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich waren, um den Notstand abzustellen. Aber damit war die Weimarer Verfassung im liberalen Sinne die freiheitlichste, die es überhaupt je auf der Welt gegeben hat. Denn diese Wertneutralität bedeutete, dass dieser Staat bereit war, sich jedem zu überantworten, der die Mehrheit und damit die demokratische Machtlegitimation errungen hatte und sich mittels dieser Mehrheit des Staates bemächtigte und ihn dann umfunktionierte zu einem Instrument, um seine eigene Ideologie dann durchzusetzen. Man öffnete die Türen für den Feind, d.h. das konstituierende Prinzip war - wenn wir die Sprache und Begrifflichkeit von Carl Schmitt verwenden wollen - dass diese Wertneutralität des Staates dem Staat die Fähigkeit beraubt hatte, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden! Platonisch gesehen, zu unterscheiden zwischen denjenigen, die man nicht walten lassen darf bis sie den Staat zerstört haben und denen, denen man zutrauen konnte und von denen man den Willen vermuten konnte, dass sie bereit sind, den Staat zu verteidigen. D.h. wenn der Staat als die Form der organisierten Einheit der Nation bedroht war durch Zerstörung, dann, so war die Meinung von Carl Schmitt, muss der Staat jenseits der Wertneutralität aufgrund der Unterscheidung von Freund und Feind in der Lage sein, alles ihm mögliche zu tun, um die minimale Einheit der Nation und damit die Nation selber zu retten und zu erhalten.

Was da angelegt war, passierte 1933. Ein unheimliches Phänomen, über das wir noch gar nicht lange genug nachgedacht, geschweige denn praktische Konsequenzen gezogen haben, denn indem der wertneutrale Staat die Tore öffnete, zogen dann die Nazis ein. In einem Phänomen, das es so vorher noch nie gegeben hat, nämlich einer legalen Revolution. Sie zogen ein, sie bemächtigten sich des Staates und stellten den Macht- und Organisationsapparat des Staates in den Dienst der Durchsetzung ihrer Ideologie, eine legale Revolution. D.h. diese Erfahrung vom Ende einer Demokratie ist es doch, und das ist die Lehre von Weimar, dass eine Demokratie durchaus ganz in Übereinstimmung mit sich selbst abgeschafft werden kann! Eine Abschaffung der Demokratie muss nicht einmal erfolgen von solchen, die sich als erklärte Feinde der Demokratie darstellen, sondern dies kann auch geschehen in Übereinstimmung mit ihren eigenen Prinzipien. Man muss nur dafür sorgen, dass man - wie auch immer - die nötige Mehrheit bekommt.

Und diese Art von legaler Revolution muss nicht in einem dramatischen Akt erfolgen, wie das damals der Fall war, sondern sie kann auch schleichend, sie kann prozesshaft erfolgen. Auf eine Art und Weise, dass die Demokratie kaum spürbar abgeschafft wird und dabei, wie beschrieben, sogar ihre Regeln und ihre Fassade unangetastet bestehen bleibt. D.h. also die Krise der Demokratie können wir gar nicht an Kriterien beurteilen, die wir aus der Verfassung selber nehmen, sondern das ist ein geschichtlich-paradigmatischer Fall, aus dem, ich will es hinzufügen, wir nach 1945 durchaus eine Konsequenz gezogen haben.

Nämlich dieser Staat, die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, ist nicht wertneutral, sondern er ist durch einen Wertekatalog konstituiert. Insofern haben wir aus Weimar eine Lehre gezogen. Wir haben natürlich auch noch andere Lehren gezogen, aber das ist die entscheidende. Dabei stellt sich die entscheidende Frage: Was ist überhaupt ein Wert? Und selbst wenn wir wüssten, was Werte sind, oder wir uns für Werte entschieden hätten, oder sie gewählt hätten, blieb immer noch die entscheidende Frage übrig, nämlich zu beantworten, was sind die Werte selber wert? D.h. unter dem formalen Begriff "Wert" verschwinden alle inhaltlichen und konkreten Differenzen, die man sich überhaupt vorstellen kann. Denn zu einem Wert erklären kann ich alles, und alles kann auch, für sich genommen, beanspruchen durch die Verfassung legalisiert und geschützt zu sein. Es muss sich nur als ein Wert Geltung verschaffen und unsere Wertzensoren, das sind im wesentlichen unsere öffentlichen Medien, müssen bereit sein, es als einen solchen zu akzeptieren.

Ich darf das mal in ganz bewusst zugespitzter Provokation sagen. Der innere Niedergang der CDU, und offenbar unterscheidet sich ihre Schwesterpartei CSU gar nicht mehr so sehr davon, ist zurückzuführen darauf, dass sie zu einem Opfer ihres Wertbegriffs und der Interpretation von Werten geworden ist, die die anderen Parteien den Werten gegeben haben. Denn ein Wert als solcher bedeutet nichts. Jeder Wert muss interpretiert werden. Ohne Interpretation ist ein Wert ein reines Appelldatum oder eine Dezision. D.h. wenn es um Werte geht, ist das Zentrum des politischen Kampfes nichts anderes als ein Interpretationskampf, denn die Werte an sich teilen alle Parteien gemeinsam.

Auch Herr Bisky und Herr Lafontaine bekennen sich zu den Werten des Grundgesetzes. Natürlich bekennen die sich auch zu Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Gerechtigkeit, da gibt es überhaupt keine Differenz. Nur Narren würden heute bestreiten, dass das alles keine Werte sind. Natürlich sind es Werte. Politisch wird es erst, wenn sie interpretiert werden. Wer interpretiert die Werte und wer sagt, welche Politik aus dieser Interpretation abgeleitet und als eine wertbestimmte Politik umgesetzt wird? Und wie wird um Werteinterpretation gekämpft? Es wird gekämpft mit der Sprache. D.h. das wichtigste Machtmittel in einer Demokratie, die durch den Wertekampf das Zentrum ihrer Politik gefunden hat, ist ein Kampf um die Sprache, es ist ein semantischer Kampf, ein hermeneutischer Kampf. Und diese Hermeneutik, also diese Interpretation und die Semantik, also der Kampf um die Sprache, ist ein Machtkampf. Das ist die moderne, unserer Zeit angemessene Form des Kampfes um die politische Macht - und zu diesem Machtkampf braucht man Instrumente. Die wichtigsten Instrumente, mit dem dieser politische Machtkampf durchgeführt wird, sind gerade nicht die Politiker, nicht das Parlament und nicht die vom Volke gewählten und legitimierten Repräsentanten und Vertreter des Volkes. Sondern die Instrumente sind die öffentlichen Medien, also Funk und Fernsehen und natürlich auch alle Printmedien.

Es hätte heute überhaupt keine Formation in Deutschland die geringste Chance an die Macht zu kommen oder an der Macht zu bleiben ohne diese Medien. Auch nicht durch ein Propaganda- und Informationsministerium. Wir haben ein nicht einmal zentral organisiertes und koordiniertes, sondern eher ein immer wieder neues spontanes Zusammenspiel von zentralen Medien, und es brauchen gar nicht alle mitzuspielen. Was der "Spiegel" am Montag schreibt, schreibt im Laufe der Woche die letzte Provinzzeitung, andere Blätter folgen der Parole, die vom "Stern" ausgeht, die dritten hören auf das, was von der "Süddeutschen Zeitung" ausgeht. Also, es geben drei oder vier "Opinionleader" die Sprachregelungen vor. Vielleicht tut dies auch einmal unsere "Bild" und die anderen wandeln sie nur noch ein wenig ab und schreiben sie nach.

Zu dem Antrag zur Neuwahl und damit zu dem katastrophalen Stimmenverlust einer so großen traditionsreichen Partei wie der SPD wäre es nie gekommen, wenn nicht der "Spiegel" und der "Stern" seit nun gut einem Jahr ihre Position völlig verändert hätten und radikale Kritik an der Rot-Grünen Koalition und ihrer Politik übten. Eine Kritik, die Sie von der Opposition nicht gehört haben. Auch jetzt nicht, beim erneuten Kampf um die Macht.

Wenn Sie ihre Aufmerksamkeit mal auf die Sprache von Frau Merkel im Wahlkampf lenken, dann ist dies doch eine geistig ausgelaugte, ausgehungerte Sprache reiner Sozialtechnik, mit der sie letzten Endes keinen Hund hinter dem Ofen hervorholen kann, geschweige denn eine Regierung stürzen. Und Sie werden ja sehen, was der "Stern" und der "Spiegel" ihr nun an Zustimmung bereitet hat, das bringt sie fertig, in drei Monaten zu verspielen.

Es hat ja einer hier gesagt, es steht alles auf der Kippe, d.h. der Wahlkampf hatte noch gar nicht begonnen, und dann stand es schon auf der Kippe? Warum stand es denn auf der Kippe? Es genügt doch nicht festzustellen was auf der Kippe steht, sondern wir müssen doch vorher nachdenken und analysieren welches die Gründe sind, die zu dieser Entwicklung geführt haben.

Und das Nächste ist natürlich, dass es für diesen hermeneutischen und semantischen Kampf um Werte und die politische Macht in der Demokratie, genauer in einer parlamentarischen Demokratie, eine große Institution gibt, die dafür vorgesehen ist. Und diese Institution ist das Parlament. D.h. das Parlament ist der Ort, an dem die großen Debatten um die fundamentalen Fragen der Nation und ihre Zukunftsgestaltung ausgetragen werden. Wenn das Parlament nur noch ein Akklamationsverein wird für Entscheidungen, die in Hinterstuben und in Kommissionen, oder wo auch immer bereits gefallen sind, schafft sich das Parlament selber ab und trägt damit entscheidend zur Zerstörung des Vertrauens in die parlamentarische Demokratie bei.

Der Vorgang des Abgeordneten Schulz war doch symptomatisch. Dieser Mann hat doch Argumente gebracht, er hat doch nicht nur Emotionen geäußert. Und im Parlament müssen Argumente diskutiert werden. Es ist doch beschämend, dass bis auf eine einzige, Frau Vollmer, alle schweigend dort gesessen haben und ihn wie eine lästige Laus abgeschüttelt haben. Er war der einzige Abgeordnete, der den Mut hatte, die Dinge so wie sie sich tatsächlich verhielten, zur Sprache zu bringen.

Wo soll denn unter diesen Bedingungen das Vertrauen ins Parlament und in die Demokratie herkommen?

Das Nächste ist dann das Regieren. Es gab eine große Diskussion bereits vor 20 Jahren. Ist die Bundesrepublik noch regierbar? Nun, da gibt es zwei entscheidende Faktoren.

Das eine ist die Notwendigkeit einer Föderalismusreform. Solange sich die beiden großen Parteien, die einen im Parlament mit parlamentarischer Mehrheit, die anderen mit ihrer Mehrheit im Bundesrat, gegenseitig lähmten, brachten sie es höchstens zu Minimalkompromissen und schaffen die Verantwortung, die Zuordnung der Verantwortlichkeiten ab. Das ist keine Kleinigkeit, sondern wenn die Verantwortlichkeiten in der Politik nicht klar sind, können die Bürger nicht wählen.

Denn die Wahl ist doch nichts anderes, als dass das Volk Stellung nimmt, bejahend oder ablehnend, zu der Politik, die gemacht wurde. Und dann muss doch das Volk wissen, wer sie gemacht hat, wer verantwortlich ist. Wir haben es ja erlebt! Die einen sagen, wir hätten eine ganz andere Politik gemacht, wenn die CDU uns nicht daran gehindert und im Bundesrat blockiert hätte. Herr Schröder zog in den Wahlkampf und sagte, jetzt lege ich das Programm vor, aus dem ihr entnehmen könnt, was ich gemacht hätte und machen würde, wenn ich nicht von der CDU blockiert worden wäre und würde. Und die CDU geht in den Wahlkampf und sagt, wir haben durch unser Verhalten im Bundesrat das Schlimmste verhindert. Aber beteiligt sind sie beide. D.h. der Bürger kann nicht mehr entscheiden, wenn die Zuordnung von Verantwortung für die Entscheidung der Politik nicht mehr durchsichtig, nicht mehr transparent ist, das ist tödlich für die Demokratie. Das ist ein Problem in Deutschland, das man gar nicht ernst genug nehmen kann.

Und dann muss man doch ein Wort über Weimar verlieren. Woran ist Weimar zugrunde gegangen? Warum ist die Weimarer Demokratie gescheitert? Sie ist an zwei Dingen gescheitert. Sie hat keine von einer Mehrheit getragene Regierung auf Dauer zustande gebracht, sondern da gab es in kürzester Zeit eine Regierung nach der anderen. Darum ist die Diskussion jetzt, ob man so verfahren kann, wie Herr Schröder, der feststellt, "ich habe zwar eine Mehrheit, aber ich vermute, in Zukunft habe ich keine mehr, so dass ich nicht stetig darauf vertrauen kann", und dann das Parlament auflösen lässt! Es ist ein böses Beispiel, und schon einmal ist eine Demokratie an diesem Selbstauflösungsrecht bzw. des Rechtes des Präsidenten, es mit kurzem Entschluss aufzulösen, zugrunde gegangen.

Dahinter steht die Frage, ob das Parlament in der Lage ist, eine Mehrheit hervorzubringen, die sich auf eine Politik einigen und verständigen kann. Das war im Großen und Ganzen bisher der Fall. Und das was wir an Stabilität unseres demokratischen Systems preisen, hängt wesentlich damit zusammen. Es gab die beiden großen Volksparteien, die eine mehr rechts, die andere mehr links, und in der Mitte als Zünglein an der Waage, die FDP, die dann der Mehrheitsbeschaffer war, die dann aber praktisch entschieden hat, wer regieren konnte. Im Grunde genommen war die FDP als die kleinste Partei eigentlich die mächtigste, denn sie entschied ja darüber, was jeweils einer der beiden großen Parteien noch zur Mehrheit und damit zur Regierung fehlte.

Schröder hätte eigentlich, wenn er überzeugt ist, dass er für seine Politik von seiner Koalition nicht mehr getragen wird, zurücktreten müssen und dann hätte diese Koalition einen anderen Kanzler wählen müssen. Dann wären vielleicht drei Wahlgänge nötig gewesen, man hätte es vielleicht nicht zustande gebracht, und dann wäre immer noch der Bundespräsident angerufen worden. Aber das Normale ist, dass ein Kanzler zurücktritt, wenn er im Parlament für seine Politik keine Mehrheit hat; das entspricht auch dem Geist unserer Verfassung und eigentlich auch der Demokratie.

Dass es aber zu einer vorgezogenen Wahl gekommen ist, zeigt, dass die mathematischen Mehrheitsverhältnisse nicht mehr gedeckt werden durch die Inhalte, die die einzelnen Abgeordneten in den Fraktionen tragen. Wir haben erlebt, dass eine vorläufig kleine Gruppe aus der SPD-Fraktion an die Öffentlichkeit gegangen ist und ihre Kritik und Ablehnung der Politik ihres Bundeskanzlers vorgetragen hat. Das konnte man ja immer im Bundestag erleben. Daraus hat Schröder geschlossen, ich habe keine Mehrheit mehr, der ich vertrauen kann. Nur diese Gruppe und diese Neuwahlen, die dem Narziss Schröder nochmal zur neuen Kräftigung seines Selbstbewußtseins verhelfen sollte, ist wie ein Schuss daneben gegangen. Die Dinge laufen ganz anders. Denn nun passierte folgendes - was gar nicht einkalkuliert war - dass sich links von der SPD eine neue Partei bildet, die LINKS-Partei. Und sie findet auch einen, Herrn Lafontaine, der öffnet nun der Nachfolgepartei der SED, der postkommunistischen Partei PDS, den Weg, um den sie bald 15 Jahre gebangt und gerungen hat, den Weg der Verankerung im Westen. Herr Lafontaine öffnete die Tür. Eine grandiose Strategie, da kann man gar nichts dagegen sagen, ich würde das an der Stelle von Herrn Bisky genauso machen.

Und dann sind sie im Westen. Und dann sind sie, wenn sie Glück haben, mit über 10 Prozent im Bundestag. Es könnten auch 20 Prozent sein, denn das Problem ist, dass 30 bis 40 Prozent in Deutschland nicht mehr zu den Wahlen gehen, d.h. es hat sich ein gewaltiges Protestpotential gebildet, das zum Teil resignierend den Wahlen fern geblieben ist. Und wenn es nun einen gäbe, der dazu fähig wäre, dieses Potential hinter sich zu bringen und, so wie Herr Lafontaine sich artikuliert, gegen das bestehende System mobilisiert?

Das Wort "Fremdarbeiter" ist ja läppisch, über so einen Quatsch regen sich manche zwar tagelang auf, aber das Entscheidende ist doch die Strategie, die dahinter steckt! Herr Lafontaine hat gesagt, damals in der DDR stand das Volk gegen das Unrecht auf, und heute muss das Volk aufstehen gegen eine Politikerklasse, die eine Politik ohne und gegen das Volk macht, d.h. mit anderen Worten, und das bringt sinngemäß Herr Lafontaine zum Ausdruck, eine Regierung zerstört diese Demokratie. Demokratie heißt ja Volksherrschaft. Demokratie heißt ja, das Volk müsste herrschen und bestimmen. Die Behauptung, dass eine Clique, und zwar alle Systemparteien, eine Politik gegen das Volk machen, ist tatsächlich demokratiezerstörend. Das ist der Vorwurf. Und die Mobilisierung aller Unzufriedenen, aus welchem Grunde auch immer berechtigt oder unberechtigt, gegen das, was wir nun "System" nennen können und was Herr Lafontaine meint, das haben wir doch schon mal gehabt!

Wie ist denn Hitler an die Macht gekommen? Er hat das Volk gegen das "System" mobilisiert und das "System" des nationalen Verrates beschuldigt. Strukturell bildet sich da ein Potential und eine Formation - und ich folge nur dem Sprachgebrauch von Herrn Lafontaine. Und dann fügt er noch hinzu, dass die Sozialpläne alle von den Wirtschaftsverbänden, d.h. vom Kapitalismus stammen. D.h. also, die Art von Quasidiktatur, die die Parteien des "Systems" über das Volk ausüben, vollziehen sie als Handlanger von Kapitalinteressen, und der in Wahrheit Diktierende ist der Kapitalismus in der Bundesrepublik. Ein klassisches Muster! Das ist alles nachzulesen! Es liegt alles zu Tage! Aber die Diskussion darüber findet gar nicht statt! Läppische Nebensächlichkeiten, wie so ein einzelnes Wort "Fremdarbeiter", erregt die Leute tage- und wochenlang.

Und wenn wir uns mal vorstellen, sie sind nun im Bundestag, und es kommt später zur Vereinigung der LINKEN, dann gehen die Träume und die Hoffnungen von Erich Honecker in Erfüllung! Das wollte er doch immer, die Eroberung der kapitalistischen, westlichen Bundesrepublik durch den wahren demokratischen Sozialismus. Und dann gibt es keine Politik mehr in Deutschland gegen den Willen dieser Formation!

Ich sage nicht, dass es so kommen muss, aber es gehört gar keine große Phantasie dazu, sich vorzustellen, dass es soweit kommen könnte! Und wenn nicht in dieser Konstellation, dann in einer anderen, denn auf die Dauer erträgt keine Demokratie die Absenz von 30 bis 40 Prozent Stimmberechtigten, die in Deutschland nicht mehr zu den Wahlen gehen, weil sie einen schweigenden Exodus aus dem System bereits vollzogen haben. Dann ist nur noch die Frage, wer holt sie zurück und womit werden sie zurückgeholt?

Wenn das eintreten sollte, dann ist die Zeit der Mitte, was immer man unter diesem imaginären Begriff auch verstehen mag, vorbei. Dann nähern wir uns einer Situation der Polarisierung, in der sich tendenziell zwei Lager gegenüberstehen, deren politische Ideologie, deren politische Programmatik und Zielsetzung unversöhnbar ist und im Grunde genommen keine Kompromisse duldet. Das wäre ein Schritt in die Wiederholung einer Situation, die 1933 zum Untergang der Weimarer Republik geführt hatte!

Aber damit haben wir das entscheidende Problem noch gar nicht genannt. Wenn man auf der gleichen Ebene, auf der ich die Wertneutralität des Staates der Weimarer Republik als einen entscheidenden Grund genannt habe, den jetzigen suchen sollte, dann ist es der, dass inzwischen das, was noch Rousseau als die Homogenität derjenigen, die in einer Demokratie Volk genannt werden, bezeichnet. Rousseau hat immer gesagt, eine Demokratie bedarf einer gewissen Homogenität der Bürger und die muss vereinigt werden durch eine Art Zivilreligion, durch bestimmte religiöse Überzeugungen, die von allen geteilt werden müssen. Ein Atheist ist dann eigentlich unerträglich. Nur wenn das der Fall ist, also die "religion civil" den Zusammenhalt sichert, kann eine Demokratie nach dem Verständnis von Rousseau funktionieren, denn nur unter dieser Bedingung ist es möglich, dass die in einer Wahl überstimmten, denen zustimmen oder die ertragen, die die Wahl vielleicht mit nur knapp 51 Prozent gewonnen haben. D.h. es muss über den Wahlvorgang und über die zu Wahlzeiten entscheidenden Fragen hinaus eine tiefere, für Rousseau bis ins zivilreligiöse hineinreichende Gemeinsamkeit geben, die dann die notwendige Homogenität bildet.

Der große Repräsentant dieses Homogenitätsbegriffes ist die Nation. Wir erleben in der ganzen Welt eine Renaissance des Nationalstaates und der Ausgang des Referendums in Frankreich und in der Niederlanden zeigt, dass die Zeit des Nationalstaates in keiner Weise vorbei ist. Die Franzosen denken nicht daran in einen europäischen Einheitsbrei ihre nationale Identität und ihr nationales Bewusstsein zu opfern und zu beerdigen. Nicht einmal die Holländer tun das. Und sie können sicher sein, die Tschechen werden das nicht tun und die Polen werden es auch nicht tun. Das einzige Land, das dazu geneigt scheint sind die Deutschen! Nur, wenn die Deutschen sich nicht ändern, werden sie mit dieser anti-nationalen Einstellung den Aufbau und die Weiterentwicklung des Einigungsprozesses Europas sogar stören, dann wird es kein Europa geben können. Es können nicht alle europäischen Staaten mehr oder weniger die Nation bewahren oder bewahren wollen und in der Mitte die Bundesrepublik nicht. Das kann nicht funktionieren. Der Nationalstaat ist nicht tot, sondern die Wiederherstellung nationaler, regionaler, kultureller Identitäten ist ein Phänomen, das wir auf der ganzen Welt beobachten können. Die Zeit reicht nicht aus diesen wirklich dramatischen und revolutionären Vorgang zu schildern.

Und das was nun vor allem, gefördert durch die Rot-Grüne Koalition, sich vollzieht ist eine allmähliche, schleichende Veränderung unserer Verfassung, ihres Wortlautes, ihres Geistes und ihrer verwirklichenden Praxis. Und dieser schleichende Prozess ist durch zwei Tendenzen bestimmt:

Die erste Tendenz ist, was man übertrieben eine Diktatur der Minderheit nennen kann. D.h. also im Namen des Verständnisses von liberalen, universalen Menschenrechten erleben wir es, dass Minderheiten - denken sie an das Kruzifix-Urteil - ihre Vorstellungen der Mehrheit aufgezwungen werden, ohne dass die Mehrheit sich dagegen wehren kann. Die Situation ist ja schon typisch gewesen. Da ist ein ganzes Land, eine ganze Region, die am Kruzifix festhalten und dann gibt es einen, der genügt, der dagegen protestiert und es nicht sehen kann und es entfernt sehen will, und dann muss es entfernt werden! D.h. also der Eine diktiert seine Vorstellung allen anderen.

Und das Zweite ist, dass dieser Begriff der universalen Menschenrechte zum schlechthin konstituierenden Prinzip unserer Verfassung und unserer Politik wird. Das führt in der Konsequenz wozu? Dass jedes Individuum auf der ganzen Welt unangesehen seiner Herkunft, seiner ethnischen Zugehörigkeit, seiner Religion, seiner Kultur, als solches ausgestattet ist mit Rechten, für deren Anerkennung und Verwirklichung der Staat der Bundesrepublik eintritt, diese vollzieht und sie auch garantiert im Rahmen des Möglichen.

Man muss den Gedanken mal abstrakt zu Ende denken. Das bedeutet, dass jedes Individuum auf der Welt, insofern er nichts anderes ist als ein Mensch, also alles was ihn zu einem Bestimmten macht, also jeder Vertreter der abstrakt allgemeinen, menschlichen Gattungsnatur hat ein Recht in der Bundesrepublik vom Staat mit allen Rechten ausgestattet zu werden, wenn er als anerkanntes Mitglied das Recht hat in der Bundesrepublik zu leben. Das hat es nie gegeben! Das wird auch von keinem anderen Land, das sich auch abstrakt zu den universalen Menschenrechten bekennt, praktiziert. Australien hat noch nie daran gedacht, jedem den Zuzug oder, wenn er schon mal da ist, alle Rechte zu gewähren. Auch die Amerikaner denken im Traume nicht daran. Die machen eine ganz harte, rigide, selektive Einwanderungspolitik zu ihrem Nutzen und ihrem Vorteil.

So gesehen werden wir, wenn das was die Grünen in ihrem anti-nationalen und liberalen Universalismus zum Prinzip gemacht haben, die Staatspraxis, die Verfassungspraxis und ihre Auslegung in Deutschland weiterhin bestimmen, bald einen Zustand erreichen, der mit unserer Demokratie nicht mehr vereinbar ist.

Demokratie, mit alldem was wir darunter verstanden haben, hat es bisher nur im Rahmen des Nationalstaates und der relativen Homogenität der Bevölkerung in einem solchen Nationalstaat gegeben. Und wenn dann noch hinzukommt, dass dieser Staat im Grunde genommen, nur existiert zur Förderung des materiellen Wohlstandes und der sozialen Sicherheit, dann ist in der Tat dieser Staat auf wirtschaftliches Wachstum vital angewiesen und davon abhängig.

Wenn aber gleichzeitig die entscheidenden Teile der Wirtschaftspolitik nicht mehr in diesem Staat gemacht werden, sondern dies schizophren abgesondert wird und in Kommissionen nach Brüssel delegiert wird, dann wird dieser Staat mit den Konsequenzen einer Wirtschaftspolitik, die natürlich liberal ist, konfrontiert Einer Wirtschaftspolitik, die er selber nicht herbeigeführt, die er auch selber eigentlich nicht mehr zu verantworten hat, aber mit deren Konsequenzen er nicht fertig wird. Und dann sinkt natürlich das Vertrauen nicht nur in den Staat, sondern auch in die Demokratie.

Die Bundesrepublik steht im Augenblick, und das ist der tiefere Grund für alle die Probleme, die ich angesprochen habe, und ich könnte noch viele mehr nennen, vor einem unlösbaren Dilemma. Nämlich vor dem Dilemma, eine Sozialpolitik zu machen, die auf der einen Seite die Steuern erhöhen muss, damit die zunehmende Zahl an Arbeitslosen sozial versorgt und gesichert wird, und die gleichzeitig die Steuern senken müsste, damit die Wirtschaft entlastet wird und man sich dann Wachstum versprechen kann. D.h. wir sind in einer Situation, in der man etwas tun muss und gleichzeitig das Gegenteil davon. Das wäre die Quadratur des Kreises. Das ist das tiefe Dilemma, in das wir, seit Jahrzehnten absehbar, bewusst hineingesteuert und zum Teil geglitten sind.

Für die Lösung dieses Problems gibt es augenblicklich keinen Politiker und keine Partei, am wenigsten die Parteien der neuen LINKEN. Und meine ganze Sorge ist, dass dies alles nicht gut ist für unsere Demokratie. Und dass das alles keine hoffnungsspendenden Argumente sind für den Glauben eines guten Ausgangs aus dieser Krise.

Nun müsste ich ein zweites Referat halten und noch einmal von vorne anfangen und begründen, dass alle diese Entwicklungen, ich will das nur an zwei Thesen tun, Entwicklungen einer bestimmten Kulturveränderung sind. Einer linken, halb-anarchistischen, anti-autoritären, emanzipatorischen, ökologisch-basisdemokratischen Kulturrevolution, die vor vielen Jahren auf den Weg gebracht wurde und deren sich die Parteien bedient haben, und der sich auch Frau Merkel nun gebeugt hat, und das noch in einem Ausmaß, wie das keiner ihrer Vorgänger getan hat. Dann müssen wir an die Quelle des Übels gehen, feststellen was die Ursache und der Grund ist und dass alles andere eigentlich nur Symptome sind, und dann ist es das Programm einer kulturellen Erneuerung. Diese kulturelle Erneuerung können wir aber nicht aus der Utopie beziehen, sondern nur aus der Zuwendung und Aneignung unseres großen europäischen und deutschen Kulturerbes, dass nicht gedacht werden kann ohne den Anteil, den das Christentum in diesem europäischen Kulturerbe hat. Genau darum geht es in meinem Buch "Kulturrevolution oder Niedergang - Sozialstaat · Bildung · Kultur", das im Januar 2005 bei der Gesellschaft für Kulturwissenschaft verlegt wurde und auch vertrieben wird.

* Der vorliegenden Text wurde in freier Rede vorgetragen und zur Veröffentlichung formal überarbeitet.

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